Ziviler Dienst in der Pflege alter Menschen – ein Zukunftsmodell?

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Ein Zivi im Einsatz in der Betagtenbetreuung im Établissement médico-social (EMS), Fondation La Venoge (Penthalaz).

Seit 1996 können Zivildienstpflichtige Einsätze in der Pflege und Betreuung von betagten Menschen leisten. Solche Einsätze erfordern Fingerspitzengefühl und Belastbarkeit. Die Nachfrage wird immer grösser, schreibt der Soziologe und Altersforscher Prof. Dr. François Höpflinger.

Bis zur Abschaffung des Zivildienstes 2011 wurden in Deutschland langjährige positive Erfahrungen mit dem Einsatz von Zivildienst leistenden jungen Männern (Zivis) in der Alterspflege gemacht. In der Schweiz sind Einsätze von Zivis in Alters- und Pflegeeinrichtungen noch wenig zahlreich, wobei die vorliegenden Praxisbeispiele jedoch durchaus ermutigend sind. So haben sich Zivis in Einzelfällen nachträglich dazu entschieden, sich in einem Pflegeberuf zu engagieren. Männer sind bekanntlich in der Pflege stark untervertreten.

Der Kontakt mit alten Menschen gegen Lebensende kann für junge Menschen am Anfang des Lebens bereichernd sein, allerdings nur, wenn sie psychisch genügend stark sind, um mit Grenzsituationen des Lebens – wie sie in Alters- und Pflegeheimen unweigerlich auftreten – zurecht zu kommen. Nicht alle Zivis sind für einen Einsatz in der Alterspflege geeignet. Das Alters- und Pflegeheim Haus zum Seewadel in Affoltern am Albis (Kanton Zürich), das laufend ein bis zwei Einsatzplätze für Zivis zur Verfügung stellt, betont beispielsweise folgende Eigenschaften als zentral: mitdenkend, einfühlsam, geduldig, kommunikativ, motiviert, zuverlässig, verantwortungsbewusst, belastbar, die eigenen Grenzen kennen, keine Berührungsängste mit älteren und dementen Menschen, Bewusstsein darüber, dass man mit schwierigen Situationen konfrontiert werden kann.

Austausch zwischen Generationen

Der Umgang alter Menschen mit jungen Menschen wird vielfach als bereichernd und stimulierend erlebt, weil damit Erinnerungen an die eigene Jugend wach werden. Deshalb sind gerade auch junge Männer bei vielen Bewohnern von Alters- und Pflegeheimen durchaus willkommen. Das Auftreten junger Männer wirkt bei einigen alten Bewohnerinnen teilweise richtig verjüngend, wobei Zivis dabei auch mit anzüglichen Witzen konfrontiert sein können. In Einzelfällen – bei Pflegeheimbewohnern mit unglücklicher Jugend – kann der Kontakt mit jungen Menschen allerdings auch mit Trauer um die nie gelebte Jugend verbunden sein. Es gibt – und dies muss immer sorgfältig beobachtet werden – Einzelsituationen, in denen gerade junge Männer auf teilweise unbewusste Ablehnung stossen, etwa bei alten Frauen, die in jungen Jahren sexuelle Ausbeutung und Gewalt erfahren haben. Der Einsatz junger Zivis in Alters- und Pflegeheimen muss deshalb in Rücksichtnahme auf die jeweilige Lebenserfahrungen der Bewohner und Bewohnerinnen gestaltet werden.

Für Alters- und Pflegeeinrichtungen, die heute oft unter Personalknappheit leiden, können Zivis eine wertvolle zusätzliche Ressource darstellen, etwa weil sie das Fachpersonal mit Hilfeleistungen (z.B. Spazierbegleitung von demenzkranken Bewohnern, Mithilfe bei der Essenseinnahme) entlasten. Ein Pilotprojekt «Spazierbegleitung bei Demenz» liess erkennen, dass gerade bei körperlich rüstigen, aber demenzerkrankten alten Menschen junge kräftige Männer ideale Begleitpersonen darstellen (etwa um verwirrte alte Menschen nach einer langen Wanderung wieder nach Hause zu begleiten). Richtig eingesetzt können Zivis eine wertvolle Zeitressource sein – eine Ressource, die in unserer hektisch gewordenen Gesellschaft selten geworden ist: Menschen, die sich Zeit nehmen und nehmen können, etwa zum Vorlesen am Pflegebett, um alte Menschen zum Erzählen über früher anzuregen oder um gemeinsam, aber gemächlich zu jassen.

Erfolgsfaktoren für Einsätze

Die Erfahrungen aus Deutschland wie auch aus der Schweiz zum Engagement junger Männer in Alters- und Pflegeeinrichtungen weisen klar darauf hin, dass der Erfolg ihres Einsatzes von verschiedenen Rahmenbedingungen abhängig ist. Zum einen ist ein längerer Einsatz (mindestens 4 Monate oder länger) sinnvoll, da vor allem bei demenzerkrankten alten Menschen ein zu rascher Wechsel von Personen zur Unruhe beiträgt. Zum anderen ist eine klare Arbeitsteilung mit den Pflegefachpersonen notwendig. Im Prinzip geht es darum, dass Zivis Hilfeleistungen erbringen, nicht aber (intime) Pflegeleistungen, die dem Fachpersonal obliegen. Als ideal erachtet wird der Einsatz von Zivis häufig in den drei folgenden Tätigkeitsbereichen:

  • Begleitung von Bewohnern und Bewohnerinnen vom Zimmer zum Speisesaal, auf Spaziergängen, bei Arztbesuchen, bei Einkäufen oder Ausflügen.
  • Mithilfe bei sozialen Tätigkeiten und Aktivierungsarbeiten, beispielsweise Mithilfe bei einer Kochgruppe, vorlesen, spielen, aber auch zuhören, wenn alte Menschen über früher erzählen.
  • Hilfeleistungen in hauswirtschaftlichen Dingen wie Essen, Tee oder Post verteilen, Betten machen, Gehhilfen reinigen oder eventuell sogar reparieren usw.


Je nach Alters- und Pflegeeinrichtungen fallen auch administrative Arbeiten an (wie etwa Listen erstellen oder das Gestalten der Webseiten einer Institution). In Einzelfällen sind auch einfache Pflegeverrichtungen – wie Begleitung zur Toilette oder Unterstützung bei der Körperpflege – denkbar, wobei hier rasch die Frage auftaucht, ob damit nicht Intimitäts-grenzen überschritten werden.

Demographische Entwicklung führt zu Nachfrage

Ein ziviler Dienst in der Pflege alter Menschen ist gerade in der Schweiz noch ausbaufähig. Aufgrund der demographischen Entwicklung stellt sich vermehrt die Frage, ob nicht gerade dieser Bereich eine Ausweitung erfahren sollte bzw. erfahren muss. Einerseits nimmt demographisch bedingt die Zahl alter Menschen zu, die zuhause oder in Heimen auf Hilfe und Pflege angewiesen sind. Andererseits zeichnet sich eine Verknappung an Pflegefachpersonen ab. Auch die Pflege durch Angehörige (Töchter, Söhne) zeigt sinkende Tendenz, nicht weil Angehörige weniger bereit sind, alte Eltern zu pflegen, sondern weil mehr alte Menschen keine Angehörigen in ihrer Wohnnähe aufweisen.

Ein vermehrter Einsatz von Zivis kann zukünftig notwendig werden. Dabei wurde schon der Gedanke formuliert, zivile Dienste nicht nur auf junge Menschen zu beschränken, sondern auch ältere Menschen einzubeziehen. So schlug der Sozialethiker Hans Ruh schon vor Jahren einen obligatorischen Sozialdienst von drei Jahren vor.1 Ein erstes Jahr wäre um das 20. Lebensjahr zu leisten. Ein zweites Jahr wäre als Wiederholungskurse während der Erwerbsphase zu erfüllen, und ein drittes Jahr könnte in Blöcken nach der Pensionierung geleistet werden. Ob und in welcher Form ein allgemeiner ziviler Dienst eingeführt und organisiert werden soll, ist offen. Aber die Erfahrungen, die im Zivildienst mit Einsätzen im Alters- und Pflegebereich gemacht werden, sind durchaus zukunftsträchtig, weil die demographische Alterung der Schweiz ohne Sonderengagement der Zivilgesellschaft letztlich wahrscheinlich kaum zu bewältigen ist.


1 Ruh, Hans: «Anders, aber besser. Die Arbeit neu erfinden – für eine solidarische und überlebensfähige Welt», Frauenfeld 1995.

Ruh, Hans: «Braucht es einen neuen Generationenvertrag?» in: Caritas (Hg.): Sozialalmanach 2004. Die demographische Herausforderung, Luzern 2003, S. 191–198.

Autor

Prof. Dr. phil. François Höpflinger ist emeritierter Titularprofessor für Soziologie an der Universität Zürich. 2003 erhielt er den Vontobel-Preis für Altersforschung.

Letzte Änderung 25.07.2016

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