Die Idee des Zivildienstes brauchte einige Zeit, bis sie – als Sonderfall eines Dienstes an der Schweiz – akzeptiert wurde. Die Möglichkeit von Auslandeinsätzen bildet dabei gleichsam den Sonderfall im Sonderfall. Die Anzahl solcher Einsätze betrug im Jahr 2012 nicht mehr als 160 und schwankte seither zwischen 125 und 135 pro Jahr. Zählt man auch die Einsätze bei Organisationen in der Schweiz dazu, so leisteten Zivis 2015 2 Prozent aller Diensttage im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe.
Sind Auslandeinsätze vielleicht gar nicht über alle Zweifel erhaben? Sind sie zu wenig anspruchsvoll? Oder «unschweizerisch»? Der Einsatz im Militär dient in erster Linie der Verteidigung unseres Landes gegen äussere Aggressionen. Man könnte argwöhnen, zivildienstliche Auslandeinsätze verkehrten dieses Anliegen ins Gegenteil: Führen längere Auslandaufenthalte nicht häufig dazu, dass man sich für das Gastland erwärmt und stärker engagiert als für die eigene Heimat?
Ich meine, Auslandeinsätze dienen dem Frieden und damit der höheren Sicherheit in unserem Land: Kenntnis und Verständnis fremder Lebensformen sind dem Frieden förderlich.
Bevor ich diese Behauptung mit drei Begründungen näher ausführe, hier noch eine kurze Vorbemerkung: Auslandseinsätze sind anspruchsvoll. Schon die an die Kandidaten gestellten Anforderungen sind es: Nebst abgeschlossener Ausbildung müssen sie Teamfähigkeit, solide Sprachkenntnisse in Englisch, eventuell in Spanisch oder in der Verkehrssprache des Einsatzlandes nachweisen. Oft werden auch EDV-Kenntnisse und Berufserfahrung oder ein bestimmtes Fachstudium verlangt. Für Einsätze in den Tropen ist zudem eine robuste Gesundheit unabdingbar. Auslandeinsätze sind nicht nur anspruchsvoll, sie sind auch besonders wertvoll. Sie erfüllen die Idee des Wehrdienstes in einer Weise, die für unser Zusammenleben in einer globalisierten Welt von wachsender Bedeutung ist.
Erstens: Horizonterweiterung
Auslandeinsätze leisten Zivis in Süd- und Mittelamerika inklusive Karibik, in Asien, aber auch in Armenien, Georgien, Jordanien, Moldawien, Tadschikistan, der Ukraine sowie auf dem afrikanischen Kontinent in über einem Dutzend Ländern. Stellen sie also eine Art Entwicklungshilfe dar? Ja, aber nicht im herkömmlichen Sinn des Wortes. Entwicklungshilfe klingt ein bisschen nach selbstloser Besserwisserei: Man zeigt anderen, wie man solide Häuser baut, Brunnen gräbt, ökologische Landwirtschaft betreibt, Kranke kuriert, Kinder impft, den Schulunterricht verbessert und Berufslehrgänge einführt. All das ist nützlich und wichtig. Entscheidender aber ist, dass sich, wer einen Auslandeinsatz leistet, dabei selbst entwickelt: Wer sich für mehrere Monate zu einer nützlichen Arbeit in einem Land am Rande Europas oder im aussereuropäischen Ausland verpflichtet, erweitert seinen Horizont.
Unser Horizont verschiebt sich laufend, wenn wir reisen. Jeder neue Standort hat seinen eigenen Horizont. Das gilt nicht nur im räumlichen Sinn. Als «geistigen Horizont» bezeichnet man die Reichweite all dessen, was uns vertraut ist und was wir durchdacht haben. Unvertrautes lehnen wir im ersten Moment oft ab. Mit zunehmender Vertrautheit differenziert sich unsere Einstellung. Wir «dezentrieren» unseren Standpunkt, der Blickwinkel weitet sich. Dahinter steckt geistige Knochenarbeit, die auf ihre Weise auch schon Kinder leisten. Ein Beispiel: Wenn mir jemand gegenüber sitzt, befindet sich sein rechter Arm meinem linken gegenüber und umgekehrt. Fünfjährige Kinder denken noch, der linke Arm des Gegenübers liege vis-à-vis vom eigenen linken Arm. Ein, zwei Jahre später korrigieren sie den Irrtum, sie haben gelernt, den eigenen Standpunkt mit dem des Gegenübers zu koordinieren: Im Geiste betrachten sie sich selbst und den Anderen gleichsam von aussen. Sie haben ihre vormals egozentrische Sichtweise überwunden und ein neues Weltbild gewonnen. Die Koordination von Standpunkten bleibt auch für Erwachsene eine Herausforderung. Man kann sich das leicht klar machen, wenn man beispielsweise vom Niesen aus zum Stockhorn blickt und versucht sich vorzustellen, welches Bild der Niesen wohl von dort aus abgibt, und umgekehrt.
Perspektiven im nicht-räumlichen Sinn muss auch der Zivi während seines Auslandeinsatzes koordinieren, vor allem wenn er sich in eine ihm wenig vertraute kulturelle Umgebung begibt. Wie sind Kultur und Lebensgewohnheiten des Gastlandes zu verstehen, und wie werden die eigenen Gewohnheiten und Überzeugungen im Gastland wahrgenommen? Kulturbegegnungen bleiben oberflächlich, solange es den Beteiligten nicht gelingt, die Perspektiven wechselseitig zu koordinieren. Gelingt dies aber, beginnt eine produktive Auseinandersetzung mit dem Andersartigen: Was ist uns gemeinsam, was unterscheidet uns? Was können wir voneinander lernen? Wo führen Perspektivenverzerrungen zu Missverständnissen? Dank solcher Standpunkt-Koordinationen gewinnen wir ein neues, reicheres und differenzierteres Weltbild.
Zweitens: bessere Orientierung im «globalen Dorf»
Mit der Globalisierung rücken die verschiedenen Weltgegenden gleichsam näher zueinander. Im «globalen Dorf» leben Gesellschaften mit heterogenen Traditionen zusammen. Diese Traditionen beeinflussen sich gegenseitig, stossen sich zeitweilig ab und vermischen sich zunehmend. Längst ist nicht nur die italienische Küche in der Schweiz heimisch, sondern auch die chinesische, tamilische, thailändische oder mexikanische.
Das Reisen ist leichter geworden: In wenig mehr als 30 Stunden fliegt man um den Globus, und innerhalb von 48 Stunden kann man fast jeden Punkt auf der Erdoberfläche erreichen. Wir Schweizer reisen gerne und oft, auch in die fernsten Länder. Wir reisen, wenn wir dem heimischen Alltagsstress entgehen und uns erholen wollen. Reisebüros werben mit Fünfsternehotels, Sehenswürdigkeiten, Kunstsammlungen, Shopping-Meilen, Traumlandschaften, Palmenstränden und einer Prise exotischer Romantik. Der Schock, den die Begegnung mit dem Vorstadt-Elend einer Megacity auslösen kann, gehört nicht zu dieser Romantik. In fernen Ländern lauern vielfältige Risiken und Widrigkeiten: unhygienische Verhältnisse, mörderischer Strassenverkehr, hohe Kriminalität, schockierende Armut, Bettelei, unvorteilhafte Gerüche, Dreck, Lärm, desillusionierende Einblicke in den Raubbau an der Natur... Viele Reiseveranstalter versuchen, ihren Kunden solche Zumutungen möglichst zu ersparen. Deswegen arbeitet der kommerzielle Tourismus mit einem Apartheidregime: Er konzentriert sich auf die Reiseparadiese und meidet die No-Go-Zonen.
Was die Auslandeinsätze des Zivildienstes so wertvoll macht, ist nicht ihre Nähe zur Entwicklungszusammenarbeit und schon gar nicht zum Katastrophentourismus, sondern die Chance, für einige Zeit in die Lebenswelt von Menschen einzutauchen, die jenseits der Grenzen des «Sonderfalls Europa» und der Schweiz leben – dieses Sonderfalls im Sonderfall.
Drittens: tieferes Verständnis für Benachteiligte
Die Schweiz ist privilegiert – mit ihrem hohen Lebensstandard, ihrem guten Bildungssystem, ihrer harten Währung und ihrer gut geölten Wirtschaft, mit hohem Rechtssicherheitsstandard und hoher Lebenserwartung, mit hübschen, von Kriegen verschonten Altstadtkernen, dem dichtesten ÖV-Netz der Welt, sauberem Quellwasser und Bilderbuch-Landschaften... Das alles mag uns selbstverständlich erscheinen. Dass es das nicht ist, merkt man spätestens, wenn man sich eine Zeitlang dem Alltagsstrudel im Süden oder Osten Europas, in einem Schwellen- oder gar Entwicklungsland aussetzt.
Die Vorzüge der Schweiz werfen auch Schatten: Unser ökologischer Fussabdruck ist grösser, als er sein dürfte: Wenn alle Menschen so leben wollten wie wir, bräuchten wir zwei bis drei Erdplaneten. Einen Teil der Kosten unseres hohen Lebensstandards überwälzen wir auf fremde Gesellschaften: Die schmutzigsten Industrien sind abgewandert, ein Grossteil unserer Lebensmittel wird auf Anbauflächen im Ausland produziert, die Gewinne multinationaler Firmen mit Sitz in der Schweiz wären ohne Naturausbeutung und ohne Nutzung von Niedriglöhnen im Ausland weniger fürstlich.
Von der Globalisierung haben nicht alle Länder gleich viel profitiert. Zwar konnten viele Menschen vor allem in den BRICS-Staaten (Schwellenländern) der Armut entfliehen. Zugleich kam es aber zu einer Polarisierung zwischen dynamischen Wachstumszentren und Peripherien, global wie regional, und viele Regionen haben den Anschluss an die Entwicklung verloren. Die internationale Arbeitsteilung – hier die Industrieländer, dort die Rohstofflieferanten – hat sich für die Letzteren als fatal erwiesen: Seitdem die Ressourcenpreise wieder fallen, sind viele Rohstoffexportländer (Brasilien, Mexiko, Venezuela, Nigeria, Südafrika, Angola, Mosambik...) in eine wirtschaftliche Schieflage geraten, mit steigender Gewaltkriminalität und politischen Krisen als Folgen. Einen Beitrag zu diesen Krisen leisten auch die lokalen Kulturen (Traditionalismus, Korruption usw.). Vielerorts, und zwar vor allem im arabischen Raum und in Afrika, wächst die Zahl der Menschen, die in ihrer Heimat keine Zukunft mehr sehen. Manche begreifen die zeitweilige Öffnung der Grenzen nach Europa infolge des Syrienkriegs als ein Signal zum Aufbruch in nördlicher Richtung.
Diese Entwicklungen klingen zum Teil ungemütlich und mobilisieren Abwehrreflexe. Wer jedoch eine Zeitlang an der europäischen Peripherie, in einem Schwellen- oder einem Entwicklungsland gelebt und gearbeitet hat, reagiert auf die aktuelle Weltkrise vielleicht mit kühlerem Kopf und ohne Panik. Er wird sich kaum darüber wundern, dass die Migrationsströme zunehmen, und sich am Ende vielleicht gar für die Integration von Flüchtlingen einsetzen.
Aus diesen drei Gründen wünsche ich mir, dass viel mehr Menschen die Gelegenheit zu Auslandeinsätzen ergreifen.
Autor
Thomas Kesselring war bis zum Erreichen der Altersgrenze 2013 Professor für Philosophie und Ethik an der Pädagogischen Hochschule Bern und Privatdozent an der Universität Bern. Er ist zudem Dozent an der Universidade Pedagógica do Moçambique sowie Docente Visitante an der Universidade de Caxias do Sul in Brasilien. 2003 veröffentlichte er im Beck-Verlag ein Buch über die Ethik in der Entwicklungszusammenarbeit.
Letzte Änderung 10.03.2020