Der Konflikt zwischen Militär- und Zivildienst ist auf einer höheren Ebene angesiedelt: Es geht entweder um die Notwendigkeit, ein Bedürfnis der Gemeinschaft kollektiv zu erbringen – das Individuum muss dann zurücktreten –, oder um die Befriedigung des egozent-rischen Wunsches des Einzelnen; das Kollektiv verblasst.
Der Zweite Weltkrieg hatte die Bevölkerung weitgehend hinter der Persönlichkeit des Generals Guisan – und damit indirekt hinter der Armee – wieder geeinigt. Die tiefen politischen und ideologischen Gräben, die sich am Ende des Ersten Weltkrieges und unmittelbar danach geöffnet hatten konnten überwunden werden, insbesondere weil die grosse Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ihre Anliegen und Interessen in der direkten Demokratie wieder wahrgenommen sahen (1929 erster Bundesrat der BGB und 1943 erster Bundesrat der SP). Die vollständige Umzingelung unseres Landes durch das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien trug natürlich das ihre dazu bei; die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft hatte einen höheren Stellenwert als individuelle Anliegen.
Bedürfnis nach Sicherheit
Während des Kalten Krieges veränderte sich die Lage nur langsam. Weite Teile der Politik und der Bevölkerung empfanden die Konfrontation zwischen West und Ost als echte Bedrohung, entsprechend hoch war das Verlangen nach Schutz; zudem verlief die Grenze West-Ost nahe an unserem Land vorbei (der kürzeste Abstand zwischen den Grenzen der Schweiz und der Tschechoslowakei betrug etwa 350 km).
Die geburtenreichen Jahrgänge und die relativ niedrigen Dienstuntauglichkeitsraten liessen die Armee auf den Planbestand von 650 000 Mann anwachsen, der aber de facto viele Jahre lang weit über 700 000 lag. Trotz Bestrafung nahm die Anzahl Dienstverweigerer langsam zu. Gegen Ende des Kalten Krieges verweigerten jedes Jahr etwa 500 dienstpflichtige Männer den Militärdienst aus Gewissensgründen, weniger als 0,1 % der Diensttauglichen. Die damaligen Dienstverweigerer nahmen viel auf sich, Freiheitsstrafen mit ihren Folgen für das zivile Leben mussten verbüsst werden. Verurteilungen zu mehrmonatigem Freiheitsentzug entsprachen zweifellos auch dem Zweck, die Militärdienstpflicht durchzusetzen und Andersdenkende abzuschrecken.
Die Entkriminalisierung erfolgte am 17. Mai 1992 mit dem sehr deutlich angenommen «Bundesbeschluss über die Einführung eines Zivildienstes für Dienstverweigerer».
Wertewandel nach dem Kalten Krieg
Die Periode, die unmittelbar auf den Mauerfall (November 1989) und den daraus resultierenden Zusammenbruch von Sowjetunion und Warschauer Pakt kündigte für viele den Beginn des ewigen Friedens an. Wer schon bald danach darauf hinwies, dass die Bedrohungen und Gefahren, zwar weniger offensichtlich und diffuser, zu- und nicht abgenommen hatten, galt als «Ewig-Gestriger» und «Kalter Krieger». Der scheinbare Friede begünstigte den beschleunigten Wertewandel, Pflichtwerte schwanden zugunsten von Werten der hedonistisch-materialistischen und der idealistischen Selbstentfaltung. Für zahlreiche Mitmenschen ist «Miliz1» zum Fremdwort geworden, davon sind nicht nur die Armee, sondern zahlreiche andere Institutionen betroffen. So wird es zum Beispiel immer schwieriger, geeignete Kandidaten für politische Ämter auf Stufe Gemeinde zu gewinnen; wo nötig bezahlt man lieber.
Nach der Einführung des Zivildienstes und bis etwa 2008 nahm der Anteil der Zivildienstleisten-den auf etwa 6 % der Diensttauglichen zu. Man kann sich vorstellen, dass in dieser Periode der scheinbaren Entspannung der Entscheid zum Zivildienst einfacher gefällt werden konnte und weniger Druck von Seiten der Gesellschaft erzeugte. Gehen wir mal davon aus, dass diese 6 % sich auf wirkliche Gewissensgründe berufen.
Ab 2009 fanden keine Gewissensprüfungen mehr statt; der Anteil Zivildienstleistende stieg in diesem Jahr auf etwa 28 %, im Jahr danach gar auf etwa 28,5 % der Diensttauglichen an. Kein Wertewandel spielt sich in einer Gesellschaft in diesem Tempo ab. Die Vermutung liegt nahe, dass viele Diensttaugliche auf diesem Weg dem mühsameren und anspruchsvolleren Militär-dienst ausweichen. Der Armee – und schlussendlich der Sicherheit der Gesellschaft – entgehen so jedes Jahr mehrere Tausend Soldaten, ein Anteil von ihnen wäre voraussichtlich zukünftige Kader.
Gesellschaftliche und individuelle Bedürfnisse im Widerspruch
In der normalen Lage stellen Aus- und Weiterbildung die Hauptaufgaben der Armee dar; bis zu diesem Punkt sind Zivildienstleistende und Soldaten vergleichbar: beide arbeiten in einem geplanten Rahmen und leisten ihren Dienst in einem ordentlichen Tagesablauf. Im Rahmen ihrer Schulen und Kurse leistet die Armee «nebenbei» zahlreiche spontane oder angeordnete Hilfs- und Unterstützungsaufgaben, die strukturierte und geführte Formationen sowie Material erfordern; hier endet die Parallelität bereits. Dass sie dann auch den Schutz von wichtigen Objekten (Flughäfen, Botschaften), die Unterstützung von Ordnungskräften (zum Beispiel in Genf anlässlich des G8-Gipfels in Evian), die Sicherung des WEF in Davos dank ihrem Können, ihrer Ausrüstung und ihrer Führungsfähigkeiten wahrnehmen kann, ist selbstverständlich und im Interesse der gesamten Gesellschaft.
Sie leistet dabei rund um die Uhr einen wesentlichen Beitrag zur Sicherheit. Diese und unsere politische Stabilität haben auch zahlreiche ausländische Firmen dazu bewogen, sich in der Schweiz niederzulassen; sie leisten einen massgeblichen Anteil an unsere florierende Wirtschaft. Die Armee benötigt aber dazu einen minimalen kritischen Bestand, damit sich permanent genügend geeignete Verbände im Truppendienst befinden. Der Zivildienstleistende erbringt zu solchen Einsätzen keinen Beitrag, es betrifft ihn auch nicht, wenn Wiederholungskurse über Festtage oder Ferienperioden verlängert werden müssen um kritischen Situationen begegnen zu können.
Der Zivildienstleistende absolviert seine Diensttage und ist danach dienstfrei. Das gewonnene Können und Wissen nützt nur ihm, für die Armee ist es verloren. Der Angehörige der Armee leistet mindestens sechs Wiederholungskurse, seine Ausbildung kommt immer wieder zum Tragen, Weiterbildung lohnt sich und ist effizient.
In der besonderen Lage leistet der Zivildienstleistende kaum Beiträge, die Armee ist nun stark gefordert; sie leidet spätestens jetzt unter Bestandeslücken, nicht zuletzt weil jedes Jahr 5000 und mehr Zivildienstleistende fehlen.
Sollte eine ausserordentliche Lage, und damit der Verteidigungsfall (gegen jede denkbare Art von Gegner) eintreten, spitzt sich die Situation noch mehr zu. Für eine glaubwürdige Strategie der Kriegsverhinderung oder Dissuasion fehlen nun die personellen Ressourcen endgültig. Zu glauben, dass auch die Bedrohungen fehlen, wäre naiv. Einen Tag lang Zeitungen zu lesen genügt!
Fazit
Armeen lösen die Probleme der Welt nicht, das weiss jeder in unserem Land, insbesondere alle diejenigen, die ihren Militärdienst leisten. Das war aber im modernen Bundesstaat auch nie eine Option, unsere Milizarmee war und ist keine Projektionsarmee, das kann sie im Milizsystem gar nicht sein. Es geht für sie also ausschliesslich um den Schutz – und notfalls die Verteidigung – von Land und Leuten2. Sie ist in dem Sinn kein Werkzeug zur Durchsetzung von politischen Zielen. Sie lässt sich deshalb in keiner Weise mit anderen Streitkräften vergleichen, bei denen es darum geht – oder gehen kann – in einem anderen Land Krieg zu führen, wohl im Interesse des Heimatstaates aber nicht zu seinem unmittelbaren Schutz. Diese vollkommen unterschiedlichen Auffassungen und Aufträge stellen unsere Armee in ein ganz anderes Licht, das in meinem Urteil die Gewissensnot ganz beträchtlich relativiert.
1 Miliz ganz allgemein verstanden als Aufgaben und Verpflichtungen ausserhalb des eigenen Arbeitsfeldes, die man im Interesse der Allgemeinheit wahrnimmt, in der Regel ohne Entlohnung.
2 BV, Art 58, Abs. 2: Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Sie unterstützt die zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer ausserordentlicher Lagen.
Autor
Oberst i Gst (a D) Peter Schneider, Dipl. Masch.-Ing ETHZ, ist pensionierter Berufsoffizier und war von 2012 bis 2015 Chefredaktor der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift (ASMZ).
Letzte Änderung 10.03.2020