«Ohne den Zivildienst bzw. meine Erfahrung im Asylbereich hätte ich wahrscheinlich über 40 Jahre in einem Büro gearbeitet»

ZIVI_jubi20j_pur
ZIVI_Jahre_1998
ZIVI_TB2

Nach seiner Zulassung zum Zivildienst absolvierte Vincent Praz zunächst einen Kurs für Zivildiensteinsätze im Asylbereich und leistete dann vom 2. Juni 1998 bis zum 18. Juli 1999 einen Einsatz in der «Administration RA-Valais» des Kantons Wallis. 18 Jahre danach macht sich der Abklärungsfachmann bei der IV Gedanken darüber, inwiefern der Zivildienst sein Leben bereichert hat.

Wie sind Sie zum Zivildienst gekommen?

Als ich als junger Rekrut 1997 in den Militärdienst einberufen wurde, hatte ich überhaupt noch nie vom Zivildienst gehört. So begab ich mich für meine Rekrutenschule unbedarft nach Genf, in der Überzeugung, ein paar glückliche Monate vor mir zu haben. Mit 20 Jahren waren meine Erwartungen zugegebenermassen nicht sehr hoch: Ausgang, Sport, Gemeinschaftsgefühl, künftige Erinnerungen an Trinkgelage, eine auf Frauen anscheinend anziehend wirkende Uniform… Doch nach genau drei Tagen merkte ich, dass eine Militärkarriere für mich absolut nicht infrage kam: Befehle, Gegenbefehle, ständiges Gefühl der Ungerechtigkeit, Machtdemonstrationen, Testosteronüberschuss… Am vierten Tag, als wir feierlich unser Sturmgewehr entgegennahmen, in Achtungstellung über die Schweizer Fahne hinweg, konnte ich das mit mir (und meinen eigenen Vorstellungen vom Leben oder auch von einer kleinen Gesellschaft) nicht einen Tag länger vereinbaren. Ich musste sofort aus dieser Kaserne raus! Das war am Donnerstag um 1.00 Uhr nachts. Um meine Bereitschaft, Zivildienst zu leisten, zu bekunden und vor allem um am nächsten Morgen die Kaserne offiziell verlassen zu dürfen, musste ich noch ein Motivationsschreiben verfassen, und das vor der Tagwache…Der Kontakt mit alten Menschen gegen Lebensende kann für junge Menschen am Anfang des Lebens bereichernd sein, allerdings nur, wenn sie psychisch genügend stark sind, um mit Grenzsituationen des Lebens – wie sie in Alters- und Pflegeheimen unweigerlich auftreten – zurecht zu kommen. Nicht alle Zivis sind für einen Einsatz in der Alterspflege geeignet. Das Alters- und Pflegeheim Haus zum Seewadel in Affoltern am Albis (Kanton Zürich), das laufend ein bis zwei Einsatzplätze für Zivis zur Verfügung stellt, betont beispielsweise folgende Eigenschaften als zentral: mitdenkend, einfühlsam, geduldig, kommunikativ, motiviert, zuverlässig, verantwortungsbewusst, belastbar, die eigenen Grenzen kennen, keine Berührungsängste mit älteren und dementen Menschen, Bewusstsein darüber, dass man mit schwierigen Situationen konfrontiert werden kann.

Warum haben Sie für Ihren Einsatz 1998 den Asylbereich gewählt?  

Als ich schliesslich für den Zivildienst zugelassen wurde, musste ich erst herausfinden, in welchem Bereich ich sinnvollerweise meinen Dienst fürs Vaterland leisten könnte: mit meiner jugendlichen Energie, meinem Enthusiasmus, einer Schaufel, einer Heugabel oder sonst einem Werkzeug (Hauptsache ich musste keine Kriegswaffe mehr halten!). Ausserdem schien es ratsam, meine über 400 zu leistenden Diensttage schrittweise abzubauen. Der Entscheid für den Asylbereich ergab sich auf natürliche Weise, war aber nicht wirklich überlegt. Ich hatte damals (noch) nicht das echte Bedürfnis, entwurzelten Menschen zu helfen und sie zu begleiten. In meiner rein kaufmännischen Ausbildung, dazu noch bei einer Versicherung, war meine soziale Ader nicht sonderlich gefördert worden! So nahm ich meine Arbeit im Asylbereich ohne bestimmte Erwartungen oder vorgefertigte Meinungen in Angriff. Und vor allem hatte ich nicht das Gefühl, ich müsse die Welt retten!

Ist Ihnen eine spezielle Situation besonders in Erinnerung geblieben?

Ein einfacher Satz hat mich damals zum Nachdenken angeregt und entsprechend vorwärtsgebracht. Ich sollte an diesem Tag die Zimmer für die «Neuankömmlinge des Tages» vorbereiten (d.h. für die Familien, die in unserer Sammelunterkunft aufgenommen werden sollten). An besagtem Nachmittag gab es besonders viel zu tun, mehrere Zimmer mussten vorbereitet werden, d.h. Betten und Schränke verschoben, Duvets, Bettwäsche, Hygieneartikel verteilt werden usw. So hetzte ich hin und her, beladen wie ein Maultier, immer und immer wieder. Dabei beobachtete mich ein alter Mann, der ruhig auf einer Bank sass. Nachdem er mir ein paar Stunden (wahrscheinlich sogar ein paar Wochen) zugeschaut hatte, sagte er freundlich zu mir: «Weisst du, Vincent, es bringt nichts, für die Arbeit herumzurennen. Du wirst eines Tages sterben, aber die Arbeit wird nie ausgehen!»

Wie haben sich diese Einsätze auf Ihr Leben ausgewirkt?

Wie bereits erwähnt, war ursprünglich geplant, dass ich meine Karriere im kaufmännischen Bereich oder in der Buchhaltung fortsetze. Ohne den Zivildienst bzw. meine Erfahrung im Asylbereich hätte ich wahrscheinlich über 40 Jahre in einem Büro gearbeitet, Notizen gelesen, Zahlen addiert, Offerten geschrieben – und ich hätte nie gemerkt, dass der Kontakt mit den Menschen für mich im Alltag eigentlich lebenswichtig ist. Vielleicht wäre ich sogar glücklich geworden, aber ich hätte bestimmt das Wesentliche verpasst!Seit fast zehn Jahren bin ich nun für die Invalidenversicherung in der Abklärung tätig. In meiner Funktion treffe ich Personen bei ihnen zuhause, die ebenfalls einen «Verlust» zu beklagen haben. Hier geht es nicht mehr um ein Land, eine Kultur, eine Sprache oder einen Verwandten, sondern eine Situation, eine Tätigkeit, eine Arbeit oder die eigene Unversehrtheit, die Mobilität, das Sprachvermögen usw. Meine Arbeitgeber haben somit gewechselt, aber die Arbeit oder besser gesagt die Aufgabe ist die gleiche geblieben: Lebensphasen und Momente mit Menschen in Not teilen und dabei – natürlich immer innerhalb des gesetzlich zulässigen Rahmens – versuchen, ein mitfühlender, fairer und ehrlicher Ansprechpartner zu sein.

Hat sich der Zivildienst seit 1998 verändert?

Das Image des Zivildienstes hat sich seither stark verbessert, zumal es inzwischen in der Gesellschaft zum Glück besser akzeptiert ist, wenn jemand «seinen Militärdienst» nicht leistet. Als ich 1998 meinen Zivildienst machte, habe ich selbst erlebt, dass man deswegen teilweise stark diskriminiert wird. Sobald mein Experte bei der Autoprüfung (der bereits weit über 60 war) erfahren hatte, dass ich momentan Zivildienst leiste, stellte er mir einige Fragen zu meinen vier Tagen in der Armee. Nach der Prüfung, während der ich fast eine Stunde (fehlerfrei) herumgefahren war, schaute er mich an und sagte: «Ich kann Ihnen den Führerschein nicht geben. Sie sind zu wenig selbstsicher und bringen die Dinge nicht zu Ende. Das ist wie beim Militärdienst, wenn man damit anfängt, schliesst man ihn auch ab!»

Was wünschen Sie dem Zivildienst zum 20-jährigen Jubiläum?

Ich wünsche mir persönlich, dass der Zivildienst so vielen jungen Leuten wie möglich offen steht, ohne dass diese zwingend Gewissenskonflikte mit der Armee vorbringen müssen. Ist es nicht sinnvoller, seinem Land mit seinem Kopf oder seinen Händen zu dienen, als den Umgang mit Waffen zu erlernen? Ausserdem werden sich immer genügend Personen finden, die die Kasernen freiwillig und mit Begeisterung füllen (und uns nebenbei auf diese Weise noch beschützen wollen – vor wem oder was auch immer?!). Die Jungen, die sich in anderer Form für die Gesellschaft engagieren möchten, sollten frei sein, dies zu tun.


Autor

Vincent-Praz

Vincent Praz ist 1977 geboren und wohnt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Veysonnaz.

Letzte Änderung 19.08.2016

Zum Seitenanfang

https://www.zivi.admin.ch/content/zivi/de/home/dokumentation/publikationen/geschichten-im-jubilaeumsjahr/vincent-praz.html