Ausnahmefall Schweiz? Der Zivildienst in internationaler Perspektive

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Zwischen «rückständig» und «wertewahrend»: ausländische Blicke

In Sachen Zivildienst galt die Schweiz in Europa lange Zeit als Sonderfall. Ausländische Beobachter verwiesen gerne darauf, dass es hierzulande erst seit 1992 ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt, während die allermeisten europäischen Nachbarländer einen solchen Anspruch oftmals bereits Jahrzehnte zuvor gesetzlich verankert haben. Auch der kurz danach aufgebaute Zivildienst galt vielen als klein und – gemessen vor allem an Deutschland, Italien und Spanien – als unbedeutend. In diesen drei postfaschistischen Ländern stieg die Zahl der Verweigerer seit den 1970er Jahren besonders rasant an. Auch in anderen westeuropäischen Staaten wie Frankreich oder Schweden verweigerten seit dieser Zeit deutlich mehr junge Menschen den Wehrdienst. Das Ergebnis war, dass Staat und Wohlfahrtsverbände dort jeweils grosse Zivildienstorganisationen aufbauten und junge Verweigerer bald zu wichtigen Stützen für die Sozialsysteme ihres Landes wurden.

Je nach politischer Positionierung erschien die Schweiz demgegenüber lange Zeit entweder als hoffnungslos rückständig oder als Hort traditioneller Werte. So urteilte in Westdeutschland zu Beginn der 1970er Jahre etwa ein Vertreter der christdemokratischen CDU, dass in Europa einzig die Schweiz «ein ungespaltenes Verhältnis» gegenüber der Pflicht zur Verteidigung des Vaterlandes habe. Allein dort verstehe man den Wehrdienst noch als «Ehrendienst» an der Gemeinschaft. Die CDU wehrte sich damals noch mit Händen und Füssen gegen die stark steigenden Verweigererzahlen im eigenen Land und erblickte darin eine grosse Gefahr für Militär und Gesellschaft. Aus dieser Perspektive fungierte das Alpenland als Bollwerk gegen einen angeblichen Werteverfall in den westlichen Gesellschaften, in denen inzwischen rücksichtsloser Individualismus vorherrsche.

Nachholend: Die Schweiz und der westeuropäische Trend

Egal ob «rückständig» oder «wertewahrend»: In beiden Fällen verstand und versteht man die Schweiz mithin als Ausnahme von der europäischen Regel. Blickt man jedoch genauer hin, so zeigt sich: Wenn auch mit einigen Jahren Zeitverzögerung folgte das Land doch einem allgemeinen westeuropäischen Trend. Die deutliche Ablehnung, auf die Wehrdienstverweigerer zunächst in Politik und Gesellschaft stiessen, machte über die Jahre einer pragmatischeren und weniger vorurteilsbehafteten Haltung Platz. Ihre Gewissensentscheidung wurde nicht immer gutgeheissen, aber sie fand deutlich weniger grundsätzliche Kritiker.

Das hatte mehrere Gründe. So erschien erstens die Verweigerung des Wehrdienstes als weniger gravierend für die Sicherheitslage des Landes, weil seit Ende der 1960er Jahre Bemühungen um Entspannung zwischen den westlichen und östlichen Blockbündnissen im Kalten Krieg einsetzten. Das galt umso mehr nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes 1990 und dem Ende der Sowjetunion, als beinahe alle Länder Westeuropas ihr militärisches Engagement teils drastisch reduzierten. Anders formuliert: Eine liberalere Haltung fiel nun leicht, weil der frühere Feind abhanden gekommen war.

Hinzu kam zweitens, dass sich junge Verweigerer über ihre Arbeit im Sozialbereich gewissermassen selbst rehabilitierten. Patienten und deren Familienangehörige lernten junge Verweigerer auf einer persönlichen Ebene als Helfer kennen und schätzen. Dadurch verflüchtigte sich ihr bisheriges Image als feige und unmännliche «Drückeberger» und machte einer deutlich positiveren Haltung Platz.

Schliesslich erkannten drittens selbst konservative Politiker in den westeuropäischen Ländern, dass der Zivildienst ein probates Mittel war, um soziale Problemlagen in der Gesellschaft zu beheben. In Westdeutschland etwa versprach der Einsatz von Zivildienstleistenden im ambulanten pflegerischen Bereich erhebliche Einsparungen gegenüber der kostenträchtigen Unterbringung von alten und pflegebedürftigen Menschen in Heimen. In Zeiten zunehmend klammer Kassen war das seit den 1970er Jahren von erheblicher Bedeutung. Tatsächlich erlangte der Zivildienst in Westdeutschland, Italien und Spanien, wo besonders viele den Wehrdienst verweigerten, ein erhebliches Eigengewicht gegenüber militär- und sicherheitspolitischen Überlegungen und man erkannte (z.B. in Deutschland und Österreich) im Zivildienst ein Argument zur Erhaltung der allgemeinen Wehrpflicht.

Steigende Akzeptanz

Die zunehmende gesellschaftliche und politische Akzeptanz von Verweigerern spiegelt sich auch in der Ausgestaltung der jeweiligen Zivildienste wider. Am Anfang waren die Zivildienste in allen europäischen Ländern noch möglichst unattraktiv konzipiert worden. Ziel war es zunächst gewesen, möglichst viele junge Menschen von der Verweigerung des Wehrdienstes abzuschrecken und so den Bestand des nationalen Militärs zu sichern. Nur diejenigen, so die Idee, die wirklich Gewissensgründe hätten, würden etwa einen gegenüber dem regulären Wehrdienst zeitlich deutlich längeren Zivildienst wählen. In Frankreich dauerte der Zivildienst etwa doppelt so lange, aber selbst im liberalen Schweden mussten Verweigerer länger dienen und erhielten zudem weniger Sold als Soldaten.

Um ganz sicher zu gehen, waren anfangs auch die Aufgaben im Zivildienst möglichst unattraktiv gehalten. Ausgenommen waren meist die beliebte pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, der Umweltschutz oder Friedensdienste im Ausland. Stattdessen hatten junge Verweigerer körperlich und psychisch belastende Arbeiten wie etwa die Pflege von alten Menschen und geistig Behinderten zu leisten. Der Zivildienst sollte somit als Nagelprobe für die Echtheit der Gewissensentscheidung dienen.

Das änderte sich jedoch mit der Zeit. In dem Mass, in dem der Staat und politische Mehrheiten in der Gesellschaft eine konziliantere Haltung gegenüber den jungen Verweigerern einnahmen, wurde die Dauer des Zivildienstes reduziert. Zugleich erweiterte sich das Aufgabenspektrum in den jeweiligen Zivildiensten. Das geschah nicht zuletzt auch, weil die wachsende Zahl von Verweigerern zu einer Öffnung der jeweiligen Zivildienste zwang.

In den skandinavischen Ländern trat seit den 1960er Jahren beispielsweise die Arbeit in Kultureinrichtungen hinzu, und einige Jahre darauf erlaubten etliche Länder wie die Niederlande, Österreich und Westdeutschland, aber auch Italien, den Einsatz im Umweltschutz, einem damals neuen politischen Aufgabenfeld von grosser Brisanz. Der Einsatz blieb jedoch meist auf einige Modellvorhaben begrenzt. Das hatte nicht nur damit zu tun, dass der Einsatz im Umweltschutz grössere berufliche Qualifikationen voraussetzt und angelernte Arbeitskräfte deshalb oft nur unterstützende und für sie deshalb oft unbefriedigende Tätigkeiten übernehmen können. Auch politische Vorbehalte verhinderten eine allzu starke Liberalisierung des Zivildienstes in diesem Bereich.

Wie zivil soll er sein? Praxis und Diskussion um den Zivildienst in der Schweiz

Die Entwicklung in der Schweiz fügt sich weitgehend in dieses Muster. Zwar dauert dort der Zivildienst (noch) länger als der Wehrdienst. Aber auch in der Schweiz wuchs Umfragen zufolge die Akzeptanz von Wehrdienstverweigerern seit den 1970er Jahren deutlich an. Entsprechend hat auch die Zurückhaltung, die der Staat in der Ausgestaltung des Zivildienstes zunächst an den Tag legte, abgenommen. Am deutlichsten zeigt sich das an den Tätigkeitsbereichen für Zivildienstleistende. Auch in der Schweiz sollten Zivildienstleistende zunächst vorrangig in weniger attraktiven Bereichen arbeiten, so etwa in der Pflege, die nicht zufällig von Anfang an zentraler Bestandteil des neuen Dienstes war. Der Auslandseinsatz sollte demgegenüber nur «ausnahmsweise» möglich sein, wie Artikel 7 des Zivildienstgesetzes vom 6. Oktober 1995 festlegte.

In den letzten Jahren ist einiges in Bewegung geraten. Auch in der Schweiz sind es die steigenden Zahlen von Verweigerern, die allem Anschein nach erheblichen Druck auf die Behörden ausüben, für mehr Beschäftigungsplätze auch ausserhalb der bisherigen Einsatzgebiete zu sorgen. Wie in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren baute der Zivildienst die häusliche Pflege, die sogenannte Spitex, aus. 2014 kam auch der Ausbau von Einsatzplätzen in der Alpwirtschaft hinzu. Dort pflegen Zivildienstleistende beispielsweise Wald und Weide und tragen auf diese Weise dazu bei, bestehende Kulturlandschaften zu erhalten. Allem Anschein nach hat sich dieser neue Bereich bewährt, ebenso wie der Einsatz von Zivis in Schulen.

Tatsächlich ist die Erweiterung des Zivildienstes um Aufgaben jenseits der klassischen Sozial- und Pflegearbeit politisch stark umstritten. Während der Verband der Verweigerer CIVIVA zusammen mit Parteivertretern etwa der Grünen für eine gesellschaftliche Öffnung des Zivildienstes und ein stärkeres Engagement der jungen Menschen in Sachen Frieden und Ökologie plädiert, sind die Schweizerische Volkspartei (SVP) und hochrangige Vertreter des Militärs strikt dagegen. Nach deren Auffassung sollen etwa Verweigerer nicht in Kontakt mit Jugendlichen kommen und diese in ihrem Sinne politisch beeinflussen. Zum anderen darf der Zivildienst in ihren Augen nicht zu attraktiv werden. Entsprechend deutlich hat sich die SVP hierzu geäussert. Dieser schwebt stattdessen vor, den Zivildienst in den Bevölkerungs- oder Zivilschutz zu integrieren. Damit würde er jedoch seinen zivilen Charakter etwas einbüssen; immerhin ist der Zivilschutz, etwa was den Führungsstil anbelangt, militärisch geprägt. Zwei sehr unterschiedliche Konzeptionen stehen sich für den künftigen Zivildienst gegenüber. Es bleibt abzuwarten, welche sich in den gesellschaftlichen und politischen Aushandlungsprozessen durchsetzen wird.  

Autor

E_Bernhard

Der Historiker Dr. Patrick Bernhard ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (Brandenburg). Er ist ein Kenner des deutschen Zivildienstes und hat 2005 dazu seine Dissertation veröffentlicht. Seine Forschungstätigkeiten führten ihn unter anderem an das Trinity College in Dublin, das Freiburg Institute for Advanced Studies an der Albert-Ludwigs-Universität (FRIAS) und das Deutsche Historische Institut in Rom.

Letzte Änderung 10.03.2020

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